Der kleine Mann im Wald

 

Es lebte einmal ein kleiner Mann in einem Wald. Es ist gar nicht nötig ihn zu beschreiben, weil ihn eh niemand wirklich sah. Er war klein und lebte im Wald. Und er lebte gut. Er hatte sich eine Hütte gebaut. Eine gute, zuverlässige Hütte, die Wind und Wetter abhielt. Der Wald nährte ihn. Und der kleine Mann war geschickt genug, sich aus den Gaben des Waldes schützende und wärmende Kleider zu schaffen. Er hatte also ein Heim, er hatte Nahrung und Kleidung. Er verstand es auch, Feuer zu Machen.

Im Sommer lag er oft in einer Wiese, die er an einer lichten Stelle des Waldes entdeckt hatte. Er liebte das Kitzeln der langen Halme an der Nase und den Zehen. Und das Summen all der emsigen kleinen Tiere um ihn herum war Musik für ihn.

Schon im Sommer freute er sich auf den Herbst. Da zog er sich warm an und erfreute sich oft Stunden an den so munter im Winde tanzenden Blättern, den Wunderbaren Farben des Laubes. Die Farben leuchteten sie sehr, dass man spürte, dass die Blätter jeden Sonnenstrahl des Sommers aufgenommen hatten und nun freudig in die Welt zurückgaben. Und der Winter erst! Die wohlige Wärme seines Heimes. Wie dankbar war er doch für dieses Heim. Seine Spuren im Schnee. Welch wunderbare Bilder zauberte er in den Schnee. Und der Duft und die verheissungsvollen Farben des Frühlings.

Oftmals erfreute er sich erstaunt ganz einfach am Überfluss dieser wunderbaren Gaben der Natur.

Doch trotz allem spürte er manchmal eine Leere in sich. „Was ist das“, fragte er. „Habe ich nicht alles, was ich brauche? Ich wohne, kleide und nähre mich in meinem Wald. Habe von allem mehr als genug.“ Und nur so zum Spass und um sich die Zeit zu vertreiben fing er an, alles was er sah und fühlte zu beschreiben. Den Sommer, den Herbst, den Winter, den Frühling Und als er alles, aber auch wirklich alle beschrieben hatte, war ein grosses, dickes Buch daraus geworden. Und kaum hatte er alles beschrieben, war sie wieder da, die Leere.

Es war an einem Tag, an dem er an einem munter plätschernden Bächlein seine Füsse kühlte. Er hielt eine handvoll Steinchen, betrachtete sie und fing an aus Gewohnheit an zu beschreiben: Da waren kleine, grosse, raue, glatte, kantige, runde, weisse, graue, bunte, matte, glänzende, helle und dunkle und wie er meinte schöne und hässliche dabei. Gibt es das überhaupt? Hässliche Steine aus einem Bächlein, so unschuldig wie neugeborenes Leben?

Und er merkte, dass er nun schon ein ganzes Jahr damit zugebracht hatte festzulegen, wie die Dinge um ihn herum seien. Er erschrak ganz gewaltig als er feststellte, dass er wirklich alles beschrieben hatte in diesem Wald, aber eines vergessen hatte: Sich selber! Und so geübt er doch nun war, es wollte ihm einfach nicht gelingen, sich selbst zu beschreiben.

An die Stelle der Leere trat nun eine quälende Unruhe. „Ich habe so viele Worte, um alles treffend zu erfassen, was mich umgibt. Wieso wollen aus dieser Vielzahl nicht diejenigen hervortreten, die mir sagen, wie ich bin?“

Und so kam er zu dem Schluss, dass er sich auf die Suche nach neuen Wörtern machen musste. Und ihm war schnell klar, dass er neue Worte nur bei Wesen finden konnte, die ebenfalls Worte hatten. Er musste also den Wald verlassen.

Und nur schon dadurch, dass er sich auf die Suche machte, hatte sich bereits etwas verändert. Bisher war er der kleine Mann im Wald gewesen. Das war jetzt nicht mehr. Jetzt war er der kleine Mann auf der Suche.

Es dauerte auch gar nicht lange, da traf er einen, der Worte hatte. Und der platzte auch gleich heraus und brüllte: „Meine Güte, bist du klein und hässlich!“ Der kleine Mann bereute augenblicklich, den Stein am unschuldigen Bächlein als hässlich bezeichnet zu haben, denn ein wenig weh tat das schon. Aber der kleine Mann auf der Suche war dennoch zufrieden. Er hatte etwas über sich erfahren, meinte er.

Und unverzagt machte er sich gleich auf, um weiterzusuchen. Das nächste Wesen, das er traf, war klein und zart und hauchte: „Meine Güte bist du gross und stark!“ Der kleine Mann auf der Suche war verwirrt. Kann man das, gross und klein sein zugleich? Wenn er jetzt schon gross und klein sein sollte, vielleicht würde er dann auch jemandem begegnen, der ihn nicht für hässlich hielt! Und schnell sah er, dass er weiter kam.

Aber was sollte er noch alles hören: klug, schön, dumm, langweilig, interessant, faul, fleissig, dünn, dick, fröhlich, traurig, lieb, böse, harmlos, gefährlich, alt, jung, grossartig, unbedeutend und dieses Aufzählen nähme kein Ende, wäre der kleine Mann nicht müde geworden.

Und weil er ohnehin gerade dabei war sich zu fragen, wieso er nicht im Wald geblieben sei, machte er sich unverzüglich auf den Heimweg.

Zuhause schlief er erst einmal. Mindestens zwanzig Stunden. Denn die Suche nach Worten, die ihm sagen würden, wie er sei, war sehr anstrengend gewesen.  Und als er erholt aufwachte tat er erst einmal, was er immer schon gerne getan hatte: Er genoss den wunderbaren Wald.

Da war nun keine Leere mehr in ihm, auch keine quälende Unruhe, sondern grosses Staunen. Er setzte sich an das unschuldige Bächlein, träumte eine Weile vor sich hin, lächelte dann, weil er sich erinnerte, einmal den Satz gehört zu haben, dass man nur in der Begegnung mit anderen etwas über sich selbst erfährt. Und plötzlich kamen Wörter von ganz allein zu ihm.

Und weil er sich nun nicht mehr sicher war, ob er gross oder klein oder sonst was war, machte er das so: „Heute,“ sagte er, „heute bin ich der Mann im Wald, der das Wasser geniesst.“

Am nächsten Tag war er der Mann im Wald, der die Regentropfen auf das Dach seines Heimes prasseln hörte. Einmal war er einen ganzen Tag lang der Mann im Wald, der dem Gesang der Vögel lauschte. Und immer schrieb er das auch auf. Und nach einer ganzen Weile, Sommer, Herbst, Winter und Frühling vergingen, war ein zweites Buch entstanden. Und er merkte, dass er nun ein Buch über das „WIE“ und eines über das „WAS“ geschrieben hatte.

Und da musste der Mann so recht von Herzen lachen und sagte sich: „Jetzt reicht es aber! Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, ich sei so dumm auch noch ein Buch über das „WARUM“ schreiben zu wollen.“

 

 

 

 

veröffentlicht        2007

 

im Buch EINFACH SO